Opfer und geistige Gesetze: Lösungen für Fukushima

Es dauerte dreißig Sekunden: Premierminister Shinzo Abe hob – bei wohl einer der wichtigsten Reden seiner Karriere – die Hände langsam auf Brusthöhe, um sie dann mit einer vertrauenerweckenden Geste auszubreiten.
Lassen Sie mich Ihnen versichern“, sagte er am 7. September zu den Mitgliedern des Olympischen Komitees, „die Situation ist unter Kontrolle.“
Der Premierminister war darum bemüht, seine Zuhörerschaft in Buenos Aires davon zu überzeugen, dass die Mehrfach-Kernschmelzen auf der Atomanlage von Fukushima I, die vom Großen Ostjapanischen Erdbeben vom 11. März 2011 ausgelöst worden waren, nicht der Anlass sein dürfen, Zweifel darüber entstehen zu lassen, dass Tokio die Olympischen Winterspiele 2020 ausrichten wird.
Der Atomunfall hat – so Abe – „nie zu einer Beeinträchtigung Tokios geführt und wird auch in Zukunft zu keiner Beeinträchtigung führen.“ (Jun Hongo, The Japan Times)

 

Das von Premierminister Abe dreist zur Schau gestellte Selbstvertrauen wird von den Nachrichten über nachlassende Anstrengungen bei den Aufräumarbeiten in den Reakoren 1, 2, 3 und 4 nicht unterstützt. Tatsache ist, dass man den vielen Berichten über unerwartete technische Ausfälle und über die Fehler von Arbeitern kaum noch folgen kann. Was fangen wir mit Zahlen wie „40.000 Becquerel pro Liter“ an – oder mit „1.533 abgebrannten Brennelementen“? Und jeder Versuch, all das zu verstehen, wird zudem durch die eingeschränkte Vertrauenswürdigkeit der Informationen erschwert. Das ist ein Problem, das nur dadurch gelöst werden kann, dass eine wirklich unabhängige Begutachtung auf breiter technischer Basis (Gewässerkunde, Maschinenbau, Elektrotechnik …) stattfinden kann.

Die grundlegende Frage ist aber immer dieselbe: Welche Folgen wird Fukushima haben?

Der Großmufti Kuftaro mit Präsident Gorbatschow und Akio Matsumura im Kreml
Der Großmufti Kuftaro mit Präsident Gorbatschow und Akio Matsumura im Kreml

Ein Aspekt wird seit den ersten Berichten ab dem 11. März 2011 ausgeblendet: Die 400 Tonnen an abgebrannten Brennelementen, die sich oben im zerstörten Reaktorgebäude 4 befinden. In den nächsten Monaten möchte TEPCO 1.533 Brennelemente – Bündel voll mit Uran, Plutonium und anderen radioaktiven Substanzen, die entstanden sind, als das frische Uran im Reaktor bestrahlt wurde – in das Allgemeine Lagerbecken auf der Anlage bringen.

Der Umlagerungsprozess ist Routinesache, aber selbst im Normalbetrieb bleibt ein kleines Restrisiko, das schwere Folgen nach sich ziehen kann: menschliche oder technische Fehler können dazu führen, dass der computergesteuerte Kran ein Brennelement in das Becken zurück fallen lässt, wodurch die darin noch eingelagerten Brennelemente beschädigt werden.

Im aktuellen Fall wird der Umlagerungsprozess durch außergewöhnliche Umstände erschwert:

  • Der Mangel an Informationen über den Zustand der Brennelemente im Abklingbecken führt zu diversen Unwägbarkeiten. (Sind die Brennelemente zerstört? Haben sie im Becken ihre Lage verändert?)
  • Die fehlende Computerunterstützung, die im Normalfall den Vorgang automatisiert, erzwingt nun eine händische Kontrolle der Gerätschaften.
  • Arbeiter und leitendes Personal werden schon allein durch die anstrengende Umgebung, die alles abverlangt, belastet.

Laut der National Regulation Authority [NRA, die japanische Atomaufsichtsbehörde; AdÜ] befinden sich insgesamt 1.533 abgebrannte oder frische Brennelemente im Abklingbecken von Reaktor 4, was dem radioaktiven Potential von gut 14.000 Hiroshima-Bomben entspricht.

 

TEPCO behauptet, man werde bis Ende 2014 die Umlagerung aller 1.533 Brennelemente abgeschlossen haben, aber – wie bei Premierminister Abe – hat dieses zur Schau getragene Selbstvertrauen wenig Bezug zur Wirklichkeit. Wir erleben die Abhängigkeit von technischen Lösungen, die von den Zuständen, von Irrtümern und von der Natur in Frage gestellt werden – und das werden wir weiterhin erleben. Ein Zeitraum von Jahrzehnten – und nicht nur von Monaten – dürfte realistischer sein. In den nächsten 40 Jahren wird es in diesem Gebiet vermutlich ein weiteres Mega-Erdbeben geben und der Ausbruch des Fudschijama (Mt. Fuji) wird immer wahrscheinlicher.

Die Aufräumungsarbeiten in Fukushima haben zu einer fast unüberwindbaren Polarisierung geführt, denn nun werden sie als Abstimmung über Atomkraft bzw. über die politische Führungsarbeit im Land angesehen. Politische Strategie hat den Hausverstand ersetzt. Allerdings sind es nicht die politischen Führungspersönlichkeiten, die ein echtes Risiko zu tragen haben. Mit dem Ende ihrer Amtszeit sind sie auch aus jeder Verantwortung gegenüber der Öffentlichkeit entlassen.

Das Atomdesaster von Fukushima kostet Leben – jetzt und in Zukunft. Japans augenblickliche Lösung lautet: Das Problem auf die Nachfahren abwälzen. Die andere Möglichkeit wären Sofortmaßnahme. So wie die Sowjetunion hunderttausende Soldaten, die Liquidatoren, benutzt hat, um Reaktor 4 zu ummanteln, und was zu einer ungeheuerlichen Anzahl von Toten geführt hat – so könnte Japan militärische und technische Eingreiftruppen auf eine ähnliche Opfermission schicken. Das wäre aber eine ganz besondere und schwerwiegende moralische Entscheidung. Was bedeutet es, seine Bürger – ohne Krieg – einer solchen Gefahr auszusetzen? 

Die sowjetischen Liquidatoren beim Einsatz in Tschernobyl
Die sowjetischen Liquidatoren beim Einsatz in Tschernobyl

In den letzten 2½ Jahren habe ich ein loses Netzwerk von etwa 20 ausgezeichneten Physikern, Ingenieuren, Medizinern, Diplomaten, Mitgliedern von Atomaufsichtsbehörden und Politikern in den Vereinigten Staaten, Japan, Kanada, Deutschland, Russland, Frankreich, Schweiz, Australien und anderen Ländern aufgebaut, um das ganze Gefahrenpotential von Atomkraftwerken im Lichte der Fukushima-Katastrophe zu diskutieren und zu verstehen. Nun wende ich mich zum ersten Mal an die geistlichen Führungspersönlichkeiten dieser Erde. Ihr Blick auf ewig gültige Werte eröffnete immer schon Wege aus politischen Sackgassen, wenn jede Bewegung bei wichtigen Themen, die unser Überleben betreffen, blockiert war.

Ermutigt hat mich folgender freundlicher Brief vom 18. Oktober von Dr. David Hampton, dem Dechanten der Harvard Divining School:

 

Lieber Akio,
vielen Dank für Deine Kontaktaufnahme und Deine langjährigen und vielfältigen Bemühungen, alle Aspekte des Lebens auf diesem Planeten zu fördern. Ich teile Deine Sorge über die möglichen Auswirkungen von Fukushima, vor allem über die Langzeitfolgen. Wie Du wahrscheinlich besser als ich weißt, ist dieses Thema von den Titelseiten der amerikanischen Medien verschwunden, sodass sich die Menschen ganz einfach nicht der dauernden Nachwirkungen und der zukünftigen Gefahren bewusst sind. Sie nehmen einfach an, dass die Situation unter Kontrolle sei. 
Mir scheint, das Du bereits eine ansehnliche Expertengruppe versammelt hast, die Dir hilft, diese Angelegenheit zu betrachten, doch ich glaube, das das große, Dir auch schon bewusste Problem der mangelnde politische Wille der japanischen Regierung ist, in großen zeitlichen Dimensionen über die bleibenden Gefahren nachzudenken.
Es ist durchaus möglich, dass der Kontakt zu den einflussreichsten geistigen Führungspersönlichkeiten, von denen sich die meisten für die ökologische Gesundheit dieses Planeten engagieren, ein Weg ist, einiges an kräftiger moralischer Unterstützung für Deine Überzeugungsarbeit zu gewinnen, vor allem, wenn Deine Arbeit auf eindeutigen Beweisen zu den realen Gefahren beruht.“
Mit den besten Grüßen
David Hempton
Dean of Harvard Divinity School

Ich fordere die geistlichen Führungspersönlichkeiten aller Glaubensrichtungen auf, sich darüber klar zu werden, was ein weiterer Unfall nicht nur für Japan, sondern für die ganze Welt bedeuten würde. Aus dem Blickwinkel Ihrer Traditionen und Ihrer Lehren – was sagen Sie zur weltweiten Krise, der wir ins Auge zu schauen haben, und zum Erbe, das uns die Atomkraft hinterlässt, und zu der sich daraus ergebenden radioaktiven Verseuchung unserer Länder und unserer Existenzen?

 

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