Ergreifen Sie die Initiative in Fukushima – Offener Brief an Generalsekretär Ban Ki-moon

30. April 2013

Sehr geehrter Herr Generalsekretär Ban Ki-moon:

Zweifellos haben Sie die Fukushima-Katastrophe vom 11. März 2011 mit Schrecken und Sorge aufgenommen: Was würde ein weiteres Desaster für die Beziehungen zwischen den Staaten, besonders in ihrer Heimatregion Ostasien, bedeuten? Glücklicherweise – so schien es – beschränkten sich die Auswirkungen hauptsächlich auf die japanische Insel und schienen geringer, als viele Experten es vorausgesagt haben. Innerhalb weniger Wochen trat diese Geschichte in den großen Medien in den Hintergrund – wenn sie nicht sogar verschwand –, nur um als Irgendjemandes persönliche Heldengeschichte oder als besonders tragischer Verlust eines geliebten Menschen wieder aufzutauchen.

Aber diese Krise ist nicht vorbei. Heute berichtete Martin Fackler in der New York Times, dass radioaktiv verseuchtes Wasser aus den Reaktoren austritt und dass sich die Anlage neuerlich in einem kritischen Zustand befindet. Mitsuhei Murata, Japans früherer Botschafter in der Schweiz, hat im vergangenen Jahr einen Brief geschrieben, der die internationale Aufmerksamkeit auf die radioaktiven Brennelemente lenkte – von denen es tausende in der Anlage gibt – und auf die Gefahr, die von deren Schadensanfälligkeit ausgeht. Darauf hatte er zuvor im Parlament schon mehrfach hingewiesen. Internationale Experten, unabhängige und solche der Internationalen Atom Energie Organisation, haben die Pläne der Tokio Elektrik Energiegesellschaft zur Auslagerung der Brennelemente an einen vorläufig sichereren Ort als optimistisch, wenn nicht gar als unrealistisch eingeschätzt.

Die Nachrichtenmedien haben bei der Berichterstattung über die derzeitigen Probleme mit den Brennelementen eine adäquate, wenn auch dürftige Arbeit geleistet. Die radioaktiven Brennelemente müssen ununterbrochen gekühlt werden, damit sie sicher bleiben. Die improvisierte Stromversorgung, die diese Kühlung aufrecht erhält, hat etliche Male versagt, einmal sogar länger als 24 Stunden – entweder wegen Eigenfehlern oder wegen hungriger Ratten. Der Schritt von einer gesicherten Situation zum Brand in der Anlage von Fukushima Daiichi ist, gelinde gesagt, gefährlich klein. (Und wie schon vielen von Anfang an klar war, hofft TEPCO sich vor der Verantwortung drücken zu können: erstens bei der Sicherheit und Instandhaltung der Anlage, zweitens bei der Rückerstattung der Kosten an Japan.)

Über das Ausmaß der Folgen im Falle eines Brennelemente-Brands kann nur spekuliert werden, aber außer Streit steht, dass bei einem solchen Brand (verursacht durch das Fehlen von Kühlwasser oder einen Schaden in Folge eines Erdbebens) das beste anzunehmende Szenario eine beispiellose globale Katastrophe wäre. Die möglichen Folgen wären die Evakuierung von 35 Millionen Menschen aus Tokio, eine dauerhafte Nicht-Nutzbarkeit des Bodens in Japan und ein verseuchter Nahrungsmittelanbau in den Vereinigten Staaten. Das sind keine fantastischen Prognosen, sondern begründete Erwartungen, die man als vorsichtig-zurückhaltend bezeichnen kann.

Geradezu untragbar, aber leider allzu wahr ist, dass diese Situation auf die letzten Seiten unserer Zeitungen und damit auch aus den Köpfen unserer Regierungsverantwortlichen verbannt worden ist. Es erinnert mich an unseren weltweiten Versuch zu einer Lösung beim Klimawandel, an dem ich über Jahrzehnte teilgenommen habe, erst bei den Vereinten Nationen und dann als Generalsekretär des Parlamentarischen Weltgipfels in Rio de Janeiro: Wir haben ein latentes und sehr ernstes Problem, das wir eigentlich lösen könnten – es fehlt uns aber an Entschlossenheit und an politischem Willen. Wie wir wissen, ist nie ein wirksames Klimaschutz-Abkommen abgeschlossen worden.

Allerdings ist, im Vergleich zum Klimawandel, das Problem mit den radioaktiven Brennelementen in Fukushima leichter zu lösen, es ist aber auch drängender. Jeder Japaner wird ihnen erzählen, dass ein weiteres schweres Erdbeben in den nächsten Jahrzehnten Japan treffen wird. Das bedeutet, dass die Situation schnell gelöst werden muss.

Auch wenn das Problem lösbar ist, bedarf es ständiger Aufmerksamkeit und kompetenter und finanziell gut ausgestatteter Akteure. Wer könnte die Verantwortung übernehmen? Die Internationale Atomaufsichtsbehörde hat letzte Woche verlautbaren lassen, dass TEPCO 40 Jahre brauchen würde, um die radioaktiven Brennelemente in geeigneten Lagerbehältern zu sichern. TEPCO weigert sich bereits jetzt, Milliarden von Yen für die Kosten der Aufräumarbeiten an Japan zu zahlen und verfügt weder über die Technologie noch über die finanziellen Mittel, um der Aufgabe kompetent und zweckmäßig nachkommen zu können. Die japanische Regierung hat bis jetzt nur auf TEPCO gesetzt.

Ein naheliegender Partner außerhalb Japans wären die Vereinigten Staaten auf Grund ihrer technologischen Vormachtstellung, Finanzstärke und Führungsrolle. Kurz nach dem Unfall bot das US-Verteidigungsministerium Japan seine Unterstützung an, aber die Japaner lehnten die Hilfe ab. Es scheint, als sei diese Tür für immer zugeschlagen. Sie [die USA] tun sich damit aber keinen Gefallen: Bei einem Brand im Lagerbecken für Brennelemente sind die USA unmittelbar betroffen, schon jetzt haben die Bewohner von Kalifornien, Oregon und Washington viel Radioaktivität abbekommen. Eine von den USA angeführte Aktion, ausgenommen vielleicht unter Oregons Senator Ron Wyden, ist unwahrscheinlich, die US-Senatoren und Abgeordneten beweisen weiterhin ihre Ohnmacht – zu Hause und im Ausland.

Ich spreche mich schon lange für ein internationales Expertenteam aus, das die Situation untersuchen sollte. Die Vereinten Nationen sind eine der geeigneten Körperschaften, um ein solches Team zusammenzustellen und auszusenden. Die IAEA aber sollte nicht in die Verantwortung eingebunden werden.

Die Aufgabe der IAEA ist es, die friedliche Nutzung der Atomenergie voranzutreiben. Die Gefahr einer nuklearen Weiterverbreitung [Proliferation] besteht in diesem Fall nicht und das Desaster selbst wirft (wieder) die Frage auf, was die friedliche Nutzung der Atomenergie eigentlich ist und ob sie weiter gefördert werden soll. Auch wenn die IAEA schon mal Sicherheitsprüfungen in Fukushima eingefordert hat: Ihre offizielle Linie zielt – was verkehrt und nicht zu erklären ist – darauf ab, dass TEPCO weiter am Ruder bleibt.

Wir wollen nicht einfach auf ein noch größeres Desaster warten. Es liegt offen am Tisch, dass die gesundheitlichen Folgen der freigesetzten Strahlung groß sind. Ungeachtet dessen, was in den großen Medien berichtet wird, haben wir in Japan in den nächsten vier bis fünf Jahren mit einem signifikanten Anstieg bei Schilddrüsenkrebs und anderen Krebsarten zu rechnen. Gleichzeitig wird es zu angeborenen Missbildungen kommen. Die voreilige Berichterstattung einiger UN-Abteilungen und der Presse sind im Großen und Ganzen unverantwortlich: Haben wir keine Ahnung, was „Vorsorge“ eigentlich bedeutet? Diese andauernde Verstrahlung wird einen Großteil der japanischen Jugend in den nächsten Jahrzehnten zu Krüppeln machen.

Unsere Kurzsichtigkeit – in Japan und international – ist tragisch. Eine Ausnahme war im vergangenen Jahr die Erkundungsmission des UN-Sonderbeauftragten Anand Grover. Ich hoffe, Sie unterstützen seine Untersuchungsergebnisse und machen diese weithin bekannt.

Wir haben bereits zu lange auf eine internationale Aktion in Fukushima gewartet – wie beim Klimawandel. Mittlerweile ist klar geworden, dass wir es nicht zulassen können, dass Japan diese Angelegenheit alleine in der Verantwortung hat, da sie uns alle treffen kann.

Herr Generalsekretär Ban Ki-moon, ich fordere Sie auf, Ihre einzigartige Stellung als Leiter der Vereinten Nationen dafür einzusetzen, dass der notwendige politische Wille wach gerüttelt wird und dass eine unabhängige internationale Untersuchungskommission aus Wissenschaftlern und Technikern eingerichtet wird, damit die Angelegenheit mit den abgebrannten Brennelementen in Fukushima angegangen werden kann, bevor wir gezwungen sind, mit dem Fallout des nächsten Desasters rechnen zu müssen. Japan und die Welt sollen nicht zu größerem Leiden verurteilt werden, nur weil wir uns auf das Warten verlegt haben.

Hochachtungsvoll

​Akio Matsumura

-Ehemaliger Sonderberater beim UN-Entwicklungsprogramm
-Gründer und Sekretär des Globalen Forums Geistiger und Parlamentarischer Führungspersönlichkeiten für das Überleben der Menschheit
-Generalsekretär des Parlamentarischen Weltgipfels in Rio de Janeiro, 1992

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